Tourette-Syndrom: Was sind die Ursachen, Symptome und wie lebt es sich mit Tic-Störung?
- Veröffentlicht: 19.07.2022
- 08:45 Uhr
- Galileo
Fluchen, Zucken, Schlagen: Wie lebt es sich mit dem Tourette-Syndrom? Und was passiert eigentlich bei Tourette im Gehirn? Im Video zeigen wir dir den Touretter Jan. Erfahre hier, was genau hinter der Tic-Störung steckt.
Tourette-Syndrom: Die wichtigsten Fakten
Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch plötzliche, unwillkürlich auftretende Handlungs-Impulse, sogenannte Tics, gekennzeichnet ist. Benannt wurde sie nach dem französischen Neurologen Georges Gilles de la Tourette, der die Krankheit 1885 erstmals ausführlich beschrieb.
Die Tics sind sowohl motorischer als auch vokaler Art und treten oft in Kombination auf.
Typisch für die Tic-Störung ist außerdem die sogenannte Koprolalie, bei der etwa 30 Prozent der betroffenen Personen zwanghaft vulgäre Schimpf-Wörter hervorstoßen.
Eine Heilung gibt es nicht, allerdings können verschiedene Therapie-Ansätze das Leben mit Tourette-Syndrom erleichtern. Genaues dazu unten.
Positiver Nebeneffekt: Studien zufolge verfügen Tourette-Erkrankte häufig über bessere Sprach-Fähigkeiten.
Der ICD-Code – also die international gültige Verschlüsselung für medizinische Diagnosen – für das Tourette-Syndrom lautet: F95.2. Der Code F95 bezeichnet Tic-Störungen allgemein.
Tourette: Das sind die Ursachen der Krankheit
Zu den Ursachen des Tourette-Syndroms gibt es aktuell nur Vermutungen. Forscher:innen gehen davon aus, dass der genetische Hintergrund eine Rolle spielt. So liegt das Erkrankungs-Risiko von Kindern von Tourette-Patientinnen und -Patienten bei etwa 5 - 15 Prozent. Das ist deutlich erhöht. Denn allgemein wird das durchschnittliche Risiko einer Tourette-Erkrankung auf 0,5 bis 1 Prozent geschätzt.
Ist eine genetische Veranlagung gegeben, müssen bestimmte Umweltfaktoren hinzukommen, die dann zur Ausbildung der Tic-Störung führen. Dazu zählen etwa:
🚬 Rauchen in der Schwangerschaft
🤯 psychosozialer Stress in der Schwangerschaft
🤰 Alkohol-, Drogen- und Medikamenten-Konsum in der Schwangerschaft
👶 Frühgeburt oder Sauerstoff-Mangel bei der Geburt
🦠 Bakterielle Infektionen mit Streptokokken der Gruppe A sollen ebenfalls Tourette begünstigen.
Was geschieht im Gehirn?
Bei Tourette-Erkrankten ist der Botenstoff-Wechsel im Gehirn gestört. Die Gehirn-Regionen, die für die Bewegungs-Kontrolle verantwortlich sind, sind anders entwickelt und/oder durchblutet als bei gesunden Menschen.
Der Botenstoff Dopamin, der die Informations-Verarbeitung steuert, ist hier aus dem Gleichgewicht geraten und besonders aktiv. In der Folge kommt es zu einem Chaos in den Basalganglien, also den Gehirn-Arealen, die über die Bewegungs-Koordination entscheiden.
Gewitter im Kopf: Jan berichtet von seinem Leben mit Tourette auf Youtube
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Wann tritt das Tourette-Syndrom auf?
Da es sich beim Tourette-Syndrom um eine Entwicklungs-Störung des zentralen Nerven-Systems handelt, beginnt die Krankheit fast immer vor dem 18. Lebensjahr, in 90 Prozent der Fälle sogar schon vor dem 11. Lebensjahr.
Krankheits-Verlauf beim Tourette-Syndrom
In diesem Alter treten erstmals Phasen mit motorischen Tics auf. Die verschwinden entweder von selbst wieder oder nehmen weiter zu und werden irgendwann durch vokale Tics wie Laut-Äußerungen ergänzt.
👉 Die Tics selbst äußern sich dann anfallsartig mehrmals pro Tag und auch nachts und verschlimmern sich bei emotionaler Erregung (etwa Stress, Angst, Freude).
👉 Hin und wieder kündigen sie sich sensomotorisch an - beispielsweise durch Kribbeln oder Spannungs-Gefühle.
👉 Unterdrückt werden können sie nur bedingt und tauchen dann später in geballter Form wieder auf.
Kann man das Tourette-Syndrom auch im Alter bekommen?
Kurz gesagt: ja, aber selten. Wenn Tic-Störungen erst im Erwachsenen-Alter auftreten, hat das Tourette-Syndrom meist schon in der Kindheit eingesetzt, äußert sich dann aber neu. Es gibt aber auch beschriebene Fälle, wo eine vermutliche Veranlagung erst im Zuge einer anderen Erkrankung getriggert wurde. Generell lassen bei einigen Menschen die verschiedenen Symptome von Tourette im zunehmenden Alter nach oder verschwinden manchmal komplett, allerdings ist dies nicht immer der Fall. Andere Erkrankte wiederum haben weiterhin mit den Symptomen der Tic-Störung zu kämpfen.
Tourette-Syndrom: Das sind die Symptome
Charakteristisch für die Tourette-Krankheit sind sogenannte Tics: Dazu zählen Augen-Zwinkern, ruckartige Bewegungen oder Laut-Äußerungen. Der Begriff "Tic" ist französisch und bedeutet auf Deutsch "zucken". Bei den Tics werden motorische und vokale sowie einfache und komplexe Tics unterschieden.
Motorische Tics
😉 Zu den einfachen motorischen Tics werden Blinzeln, Stirn-Runzeln, Augen-Zwinkern, Schulter-Zucken, Kopf-Schütteln oder Grimassen schneiden gezählt.
👊 Komplexe motorische Tics beinhalten Sprünge, das Berühren von Gegenständen oder Menschen, Körper-Verdrehungen, Glieder-Zucken und Kopropraxie, also obszöne Gesten. Auch selbstverletzende Handlungen gehören dazu: Die betroffenen Personen schlagen beispielsweise ihren Kopf gegen die Wand, kneifen sich oder stechen sich mit einem Stift.
Vokale Tics
📣 Zu den einfachen vokalen Tics gehören Laute wie Räuspern, Quieken, Grunzen, Schmatzen oder Bellen.
🤬 Komplexe vokale Tics sind herausgeschleuderte, häufig obszöne Wörter oder Sätze, die in keinem logischen Zusammenhang mit der Situation stehen (Koprolalie). Auch das Schnalzen mit der Zunge oder Echolalie, also das ungewollte automatische Nachsprechen von Gehörtem, gehören dazu.
⌛ Die Tics sind individuell ganz verschieden und können sich im Laufe der Erkrankung verändern. Es können auch neue Symptome dazukommen. Manchmal werden betroffene Personen von anderen betroffenen Personen inspiriert und übernehmen nach einer Begegnung die Tics der anderen Person (Echopraxie).
😴 Sogar während des Schlafens treten die Tics auf, wenn auch in abgeschwächter Form. Die betroffenen Personen können sich meist nicht an die nächtlichen Tics erinnern.
Vorzeichen von Tics
Häufig merken die betroffenen Personen den Tic erst, wenn er auftaucht. Nur manchmal kündigt er sich durch ein unangenehmes Kribbeln oder Spannungs-Gefühl vorher an. Mit dem Ausführen des Tics verschwindet auch das unangenehme Gefühl.
Mögliche weitere Störungen bei Tourette-Patientinnen & Patienten
Zu den Tics entwickeln sich bei den meisten Personen mit der Tourette-Krankheit weitere Störungen wie beispielsweise Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Zwangs-Störungen, Schlaf-Störungen, Depressionen, Angst-Störungen oder soziale Phobien.
Symptome: Wie erkennt man Tourette bei Kindern?
🧑 Bei Kindern treten die ersten Tourette-Symptome meist zwischen vier und sieben Jahren auf und zeigen sich anhand von motorischen Tics wie Augen-Zwinkern, Husten, Grimassen-Schneiden oder raschen ziellosen Bewegungen.
👱 Bei etwa der Hälfte der Betroffenen nehmen die Symptome bis zur Pubertät zu und werden durch vokale Tics wie Geräusche und unwillkürliche Worte beziehungsweise Koprolalie verstärkt. Warum Tourette-Kranke Schimpfworte rufen, ist noch nicht geklärt.
👨 Die Tics bei Kindern gehen in etwa 70 Prozent der Fälle nach der Pubertät - meist Mitte 20 - zurück. Bei wenigen verschwinden sie völlig.
♂ Jungen erkranken vier Mal häufiger an Tourette als Mädchen. Sie sind auch öfter von typischen Begleit-Erkrankungen wie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sie auch häufiger an Zwangs-Störungen leiden.
Einteilung der Schweregrade von Tourette
Der Schweregrad der Krankheit lässt sich mithilfe verschiedener Skalen bestimmen:
- Die Yale Globale Tic-Schweregrad-Skala (YGTSS): Die klinische Bewertungs-Skala ist die am häufigsten und anerkannteste Skala zur Beurteilung des Schweregrads der Tic-Störung:
👉 Keine Beeinträchtigung
👉 Minimale Beeinträchtigung: Erkrankte Personen empfinden diskrete Schwierigkeiten hinsichtlich Selbstwertgefühl, Familienleben, sozialer Akzeptanz oder Leistungen in der Schule oder am Arbeitsplatz.
👉 Leichte Beeinträchtigung: Erkrankte Personen haben mit kleineren Schwierigkeiten hinsichtlich Selbstwertgefühl, Familienleben, sozialer Akzeptanz oder Leistungen in der Schule oder am Arbeitsplatz zu kämpfen.
👉 Mittelgradige Beeinträchtigung: Die Schwierigkeiten betreffend Selbstwertgefühl, Familienleben, sozialer Akzeptanz oder Leistungen in der Schule oder am Arbeitsplatz werden von betroffenen Personen als deutlich wahrgenommen.
👉 Ausgeprägte Beeinträchtigung: Die Tics führen zu größeren Schwierigkeiten hinsichtlich Selbstwertgefühl, Familienleben, sozialer Akzeptanz oder Leistungen in der Schule oder am Arbeitsplatz.
👉 Schwere Beeinträchtigung: Betroffene Personen begegnen ausgeprägten Schwierigkeiten hinsichtlich Selbstwertgefühl, Familienleben, sozialer Akzeptanz oder Leistungen in der Schule oder am Arbeitsplatz.
Neben der YGTSS gibt es noch weitere verschiedene Skalen zur Einteilung des Schweregrads von Tourette:
- Die Tourette-Syndrom-Schweregrad-Skala (TSSS): Hier wird die Häufigkeit der Tics ermittelt und festgestellt, inwieweit sie eine Beeinträchtigung darstellen.
- Die Yale-Tourette-Syndrom-Symptomliste (YTSSL): Hier werden die Symptome der Tic-Störung jeden Tag gemessen.
- Die Tourette-Syndrom-Global-Skala (TSGS): Hier werden im ersten Teil die motorischen und vokalen Tics erfasst und im zweiten Teil die soziale Funktionsfähigkeit eingeschätzt.
Tourette-Syndrom: Untersuchungen und Diagnose der Tic-Störung
Die Diagnose des Tourette-Syndroms kann hauptsächlich anhand von Symptomen und dem bisherigen Krankheits-Verlauf gestellt werden. Es gibt keine Blut-Untersuchungen oder neurologische oder psychologische Test-Verfahren, mit denen das Tourette-Syndrom festgestellt werden kann. Deshalb werden gerade leichtere Verläufe häufig übersehen oder erst Jahre später diagnostiziert. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie empfiehlt als Basis-Diagnostik folgendes Vorgehen:
- Erhebung der Kranken-Geschichte (Anamnese)
- Erhebung des neurologischen Status
- Beschreibung der Tics in ihrer Art, Häufigkeit, Intensität und Verteilung
- Untersuchung auf mögliche begleitende Störungen wie ADHS, Zwangs-Symptomen, Depression, Angst, Auto-Aggression
Behandlungsmöglichkeiten: Wie wird Tourette therapiert?
Eine vollkommene Heilung von Tourette-Patientinnen & -Patienten ist bisher nicht möglich. Verschiedene Therapie-Ansätze sind je nach Schweregrad der Erkrankung jedoch erfolgversprechend.
💊 Medikamentöse Behandlung: In schweren Fällen können Neuroleptika die Tics lindern.
🧠 Hirn-Schrittmacher: Drohende Tics können mithilfe der elektrischen Impulse eines Hirn-Schrittmachers eingedämmt werden.
💬 Psychotherapie: Individuelle psychotherapeutische Behandlungen unterstützen die betroffenen Personen dabei, mit den Symptomen und deren Wirkung auf das Umfeld besser umzugehen.
🧘 Entspannungs-Therapien: Entspannungs-Techniken wie autogenes Training oder die progressive Muskel-Entspannung nach Jakobsen können dabei helfen, die Tics besser im Griff zu halten und Begleit-Erkrankungen wie ADHS, Zwangs- oder Schlaf-Störungen entgegenzuwirken.
🚬 Cannabis: Oft wird auch die Einnahme von Cannabis-Medikamenten oder Cannabinoiden als abschwächende Maßnahme bei Tic-Störungen genannt, deren Wirkung gilt allerdings nicht als erwiesen.
Praxis-Tipps: So gehst du mit betroffenen Personen um
💗 Geduldig sein: Betroffenen Personen gegenüber wütend oder nachtragend zu sein, bringt nichts. Stress-Situationen sorgen meist für noch heftigere Tics.
🔙 Freiräume schaffen: Fürs Büro können zum Beispiel nicht einsehbare Aufenthalts-Bereiche eine gute Lösung sein. Dort können sich die betroffenen Personen zurückziehen.
💡 Neue Wege gehen: Wenn Tics es unmöglich machen, mit anderen mitzuhalten, ist Flexibilität gefragt. Aufgaben und Aktivitäten anzupassen, erleichtert für alle das Miteinander.
🗣️ Verständnis schaffen: Möglicherweise wissen andere Personen aus dem Umfeld der betroffenen Personen nichts oder nur sehr wenig über Tics oder das Tourette-Syndrom. Offene Gespräche helfen.
🙅 Ausgrenzung verhindern: Situationen, in denen Tourette-Symptome für betroffene Personen zum Problem werden könnten, vermeiden und nach Alternativen suchen.
Willst Du noch mehr über das Tourette Syndrom erfahren?
Bei der Tourette-Gesellschaft Deutschland e.V. (TGD) findest du zahlreiche Informationen und Tipps.
Alles Wissenswerte zum Tourette-Syndrom auf einen Blick
Einfache motorische Tics wie Augen-Zwinkern, Grimassen schneiden oder ruckartige Kopf-Bewegungen sind häufig die ersten Anzeichen vom Tourette-Syndrom. Später folgen vokale Tics wie Räuspern, Hüsteln oder Schnalzen mit der Zunge.
Beim Tourette-Syndrom gibt es bisher keine Therapie zur vollkommenen Heilung, mit den vorhandenen Therapien können die Symptome jedoch gemildert werden. Je nachdem, wie stark die Betroffenen von ihren Tics beeinträchtigt sind, wird mit Medikamenten und fachlicher Hilfe das Leben mit Tourette-Syndrom leichter gemacht.
Tics bei Erwachsenen sind keine Seltenheit, die meisten Betroffenen leben ihr ganzes Leben mit den Tics des Tourette-Syndroms. Nur bei einigen Patientinnen und Patienten lassen die Tics zwischen dem 16. und 26. Lebensjahr wieder nach.
In einer vertrauten Umgebung lassen die Betroffenen ihren Tics häufig freien Lauf, bei Konzentration lassen die Tics nach. Dadurch kommen die Tics von Kindern in der Schule seltener vor als zu Hause. Stress und Müdigkeit, aber auch Entspannung können die Tics verstärken.
Die ersten Tics treten meist im Kindesalter zwischen vier und sieben Jahren auf, in 90 Prozent aller Fälle vor dem 11. Lebensjahr. Zumeist beginnen sie mit "unverdächtigem" Augen-Zwinkern, Grimassen schneiden oder ruckartigen Bewegungen.
Die genauen Ursachen des Tourette-Syndroms sind bisher nicht geklärt, man geht von einer komplexen neuronalen Entwicklungs-Störung aus. Neben genetischen Faktoren können auch Umweltfaktoren den Ausbruch der Erkrankung begünstigen. Drogen- oder Medikamenten-Missbrauch in der Schwangerschaft sowie eine problematische Geburt zählen ebenfalls zu den Risiko-Faktoren.
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass es eine erbliche Komponente in der Entwicklung von Tourette gibt und sich in den Familien von Tourette-Betroffenen gehäuft leichte Tic-Störungen und zwanghafte Verhaltens-Weisen finden. Jedoch nur etwa 5 bis 15 Prozent der erblich vorbelasteten Kindern leben später mit einer Form des Tourette-Syndroms.
Expert:innen schätzen, dass etwa 0,5 bis 1 Prozent der Menschen ein Tourette-Syndrom entwickeln, es ist also keine seltene Krankheit. Jungen sind etwa vier Mal häufiger betroffen als Mädchen.