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Dunkle Erinnerungen, neue Ängste

Pogromnacht: Vor 85 Jahren rollte der angeordnete Terror übers Land

  • Veröffentlicht: 09.11.2023
  • 10:56 Uhr
  • Anne Funk
Das historische Foto vom 10. November 1938 zeigt Feuerwehrleute vor der Synagoge in der Fasanenstraße, Berlins größtem Haus der Jüdischen Gemeinde.
Das historische Foto vom 10. November 1938 zeigt Feuerwehrleute vor der Synagoge in der Fasanenstraße, Berlins größtem Haus der Jüdischen Gemeinde.© Uncredited/AP/dpa

Brennende Synagogen, zerstörte Geschäfte, zahlreiche jüdische Mitbürger:innen, die starben oder deportiert wurden: 1938 ordnete das NS-Regime einen Gewaltexzess sondergleichen an. 85 Jahre nach der Pogromnacht schüren antisemitische Vorfälle erneut die Angst.

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"Es ist keine 100 Jahre her, da wurden Juden fabrikmäßig ermordet, vertrieben, entrechtet und gedemütigt". Das sind die Gedanken einer jungen jüdischen Berlinerin, die anonym bleiben möchte. Genau 85 Jahre sind vergangen, seit eine antijüdische Gewaltwelle über Deutschland und Österreich rollte. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gipfelte der Antisemitismus, der sich seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 immer weiter Weg bahnte, in einem beispiellosen Exzess der Zerstörung: der Pogromnacht.

Offiziell nahmen die Nazis ein Attentat zum Anlass: Der 17-jährige Herschel Grynszpan hatte am 7. November mehrfach auf den deutschen Botschaftsrat Ernst Eduard vom Rath in Paris geschossen. Als Grund nannte der junge polnische Jude die Deportation Tausender Jüdinnen und Juden an die deutsch-polnische Grenze - darunter auch seine Eltern. Der Botschaftsrat erlag zwei Tage später seinen Verletzungen. 

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Angeordnete Gewalt mit Vorgaben

Für die Spitze der NSDAP Grund genug, das Startsignal zu geben. "Auf Grund des Attentats gegen den Leg. Sekr. v. Rath in Paris sind im Laufe der heutigen Nacht - 9./10.11.38 - im ganzen Reich Demonstrationen gegen die Juden zu erwarten", telegrafierte SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich unter der Dachzeile "Blitz, dringend, sofort vorlegen!" an alle Dienststellen.

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Die Pogrome waren damit nicht nur von offizieller Stelle angestoßen, sondern auch mit konkreten Anweisungen für die Durchführung versehen. Bei den sogenannten Demonstrationen sollten "zum Beispiel Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist" entfacht werden. Und: "Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden". Auch sollte in Geschäftsstraßen besonders darauf geachtet werden, "dass nichtjüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert" werden. Wenn diese Vorgaben eingehalten würden, seien "die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern, sondern nur auf die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen", so Heydrich.

Tausende ins Konzentrationslager verschleppt

Und so brannten in der Nacht Synagogen im ganzen Land, mehr als 7.000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler wurden zerstört, ebenso zahlreiche Wohnungen von Jüdinnen und Juden. Offiziellen Angaben zufolge seien 91 Menschen getötet worden - Schätzungen von Historikern gehen von weit mehr als 1.300 Menschen aus, welche unmittelbar in Folge der Ausschreitungen starben. Über 30.000 Jüdinnen und Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt.

Pogromnacht 1938: Terror gegen jüdische Mitbürger:innen

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Dieses Bild zeigt die zerstörten Fenster der Kieler Synagoge nach der Pogromnacht aus der Fotosammlung des Stadtarchivs Kiel (Foto von 1938).
© Stadtarchiv Kiel/Stadtarchiv kiel/dpa

Dieses Bild zeigt die zerstörten Fenster der Kieler Synagoge nach der Pogromnacht aus der Fotosammlung des Stadtarchivs Kiel (Foto von 1938).

In München wurde unter anderem die Ohel-Jakob-Synagoge in Brand gesetzt und zerstört.
© Bundesarchiv

In München wurde unter anderem die Ohel-Jakob-Synagoge in Brand gesetzt und zerstört.

Feuerwehrleute vor der Synagoge in der Fasanenstraße, Berlins größtem Haus der Jüdischen Gemeinde, nachdem die Nationalsozialisten es in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Brand gesteckt hatten.
© Uncredited/AP/dpa

Feuerwehrleute vor der Synagoge in der Fasanenstraße, Berlins größtem Haus der Jüdischen Gemeinde, nachdem die Nationalsozialisten es in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Brand gesteckt hatten.

Ein Gedenkstein am ehemaligen Standort der Würzburger Hauptsynagoge.
© Daniel Karmann/dpa

Ein Gedenkstein am ehemaligen Standort der Würzburger Hauptsynagoge.

Die zerstörte Synagoge in Berlin in der Oranienburger Straße. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1948.
© Bundesarchiv

Die zerstörte Synagoge in Berlin in der Oranienburger Straße. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1948.

An den Fenstern jüdischer Geschäfte werden von Nationalsozialisten Plakate mit der Aufforderung "Deutsche, wehrt euch, kauft nicht bei Juden" angebracht.
© Bundesarchiv

An den Fenstern jüdischer Geschäfte werden von Nationalsozialisten Plakate mit der Aufforderung "Deutsche, wehrt euch, kauft nicht bei Juden" angebracht.

Nach dem faschistischen antisemitischen Pogrom vom 9. und 10. November 1938 wurden etwa 30.000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.
© Bundesarchiv

Nach dem faschistischen antisemitischen Pogrom vom 9. und 10. November 1938 wurden etwa 30.000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.

Berlin: Eine Gedenktafel erinnert an die Pogromnacht, in der auch die neue Synagoge in Brand gesteckt wurde.
© Fabian Sommer/dpa

Berlin: Eine Gedenktafel erinnert an die Pogromnacht, in der auch die neue Synagoge in Brand gesteckt wurde.

Die Gewalttaten wurden in großen Teilen von SA- und NSDAP-Mitgliedern durchgeführt. Doch auch Angehörige der Hitlerjugend und weiterer NS-Organisationen beteiligten sich. Zahlreiche Menschen waren zwar nicht direkt beteiligt - doch unter den Gaffern wurde gejubelt und gejohlt, schreibt das Deutsche Historische Museum. Andere hätten schweigend oder gleichgültig hingenommen, was mit ihren Mitmenschen geschah. Unterstützung für die jüdischen Mitbürger:innen gab es kaum. 

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Aufkeimender Antisemitismus

85 Jahre später schüren mehrere antisemitische Vorfälle in Deutschland die Angst bei Jüdinnen und Juden. "Plötzlich flammt das wieder auf: Gedanken an die Vergangenheit begleiten mich jeden Tag, ob ich will oder nicht", beschreibt die bereits erwähnte junge jüdische Berlinerin.

Seit dem Angriff der Hamas mehren sich hierzulande Vorfälle: Als Unbekannte Davidsterne auf Häuser jüdischer Berliner:innen malten, fühlten sich viele an das öffentliche Markieren der NS-Zeit erinnert. Auf eine Synagoge in Berlin-Mitte wurde im Oktober versucht, ein Brandanschlag zu verüben. "85 Jahre nach der Reichspogromnacht sollen in Deutschlands Hauptstadt Synagogen wieder brennen", so Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Doch ist die Situation tatsächlich vergleichbar mit den 1930er-Jahren?

"Ja und Nein", erklärt der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster. "Ja, es war ein Brandanschlag auf eine Synagoge, der historische Traumata anspricht und das ist real", stellt er fest. "Nein, denn 1938 war das Ganze ein staatlich gelenktes Pogrom. Davon kann heute in Deutschland Gott sei Dank keine Rede sein." Es gebe heute von politischer Seite ganz klare Stellungnahmen für Israel und für jüdisches Leben in Deutschland, auch gebe es von staatlicher Seite bestmöglichen Schutz für jüdische Einrichtungen. "Das macht den wesentlichen Unterschied."

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"Man muss vorsichtig sein, man darf nicht naiv sein"

Und trotzdem: Ein Gefühl der Angst bei Jüdinnen und Juden ist vorhanden. In Bezug auf das Kennzeichnen von Häusern mit einem Davidstern erklärt Jonah Sievers, Rabbiner der Synagoge Pestalozzistraße in Berlin, dass die "Herausstellung von Juden, diese öffentliche Markierung" einen an Zeiten erinnere, die eben doch mit dem 9. November zu tun hätten. "Sie sind natürlich nicht parallel. Aber die Symbolik und das, was es bewirken soll, das ist identisch. Und das wird diesen 9. November sicher zu einem anderen machen als die Jahre davor."

Er selbst trage eigenen Worten zufolge in der Öffentlichkeit nur noch selten die Kippa - um Anfeindungen aus dem Weg zu gehen. "Man muss vorsichtig sein, man darf nicht naiv sein", erklärt der Rabbiner. Auch bei der jungen Berlinerin sei nun die Angst, sich als Jüdin zu erkennen zu geben, in ihrem Leben angekommen. Und auch die Angst, über den Nahost-Konflikt zu sprechen. Denn: "Ich fürchte, dass ich ertragen muss, wie Gewalt gegen Juden relativiert und gerechtfertigt wird".

  • Verwendete Quellen:
  • Nachrichtenagentur dpa
  • Deutsches Historisches Museum: "Novemberpogrome 1938"
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